Es ist schon lange her, dass an einem Sonntagmorgen bei uns um sechs der Wecker geklingelt hat. Umso mehr Willenskraft müssen wir aufbringen, um dem Ruf der Wildnis wirklich zu folgen und aus dem Bett zu springen. In Windeseile - denn wir haben nur 40 Minuten bis unser Zug abfährt - verpacken wir uns wintertauglich, füllen eine Thermoskanne mit dampfendem schwarzen Tee mit Zitrone und rasen mit den Rädern zum Bahnhof. Es sind es -2 Grad.

Früher waren wir die Einzigen in den regionalen Zügen und Bussen, die uns morgens hinaus in die Brandenburgische Weite tragen. Heute sind wir unterwegs mit etwa 15 Afrikanern. Männer von kleiner Statur in Anzügen und Frauen mit weißen, locker über den Kopf geworfenen Tüchern und Kinderwägen. An jedem Halt werden es mehr. Als wir in Neuruppin ein letztes Mal umsteigen, ist es bereits eine beeindruckend große Gruppe. Wir fragen uns, wo sie um diese Zeit bloß alle hinwollen. Sie weichen unseren Blicken aus. Vielleicht, weil sie es leid sind, immer angestarrt zu werden. Einer der Männer, die hinter Daniel sitzen, spricht plötzlich ein paar Sätze auf Deutsch. "Oh, das ist gemütlich hier" sagt er zu seinen Freunden. Und: "Ich bin sehr müde". Ich interpretiere es als Geste, auch wenn keiner von ihnen in unsere Richtung schaut. Sie sind mir gleich ein bisschen weniger fremd.

Lindow

An der Bushaltestelle im ausgestorbenen Lindow (Mark) beginnt unsere Wanderung. Nur 15 Kilometer sind es von hier bis nach Gransee. Perfekt für einen Wintertag, an man man im Wettlauf mit dem schwindenden Tageslicht steht.

Am Wutzsee laufen wir am südlichen Seeufer in Richtung Meseberg. Außer zwei älteren Herren, die wir auf ihrem gemächlichen Spaziergang überholen, ist es menschenleer und saukalt.

Wir lassen den Uferweg hinter uns und folgen dem Wanderweg in den Wald. Mit durchdringendem Gekrächze scheinen sich die Krähen gegenseitig auf die zwei Eindringlinge aufmerksam zu machen. Sie kreisen über einem verlandeten See, in dessen Nähe ich etwas entdecke. Es sieht aus wie ein Steinzeitwerkzeug. Ein behauener kleiner Stein mit scharfen Kanten. Ich stecke ihn vorsichtshalber ein, man weiß ja nie. Parallel zu unserem Weg verläuft ein kleines Fließ, das den Wutzsee und den Huwenowsee verbindet. Während wir laufen, bin ich in Gedanken bei den Steinzeitmenschen.

Das Schloss der Bundesregierung - Meseberg

Am östlichen Ufer des Huwenowsees liegt das Barockschloss Meseberg. Strahlend schön, aber unerreichbar hinter hohen Zäunen. Das Schloss ist das offizielle Gästehaus der Bundesregierung und gut bewacht. Zum Glück ist das Restaurant daneben auch dem Fußvolk zugänglich und so lassen wir uns dort auf einen Teller Soljanka und ein Stück spanischen Apfelkuchen nieder. Über uns an der Wand hängt ein Foto von Angela Merkel, das sie bei einem Besuch im "Schlosswirt" zeigt. Man muss eben mit dem arbeiten, was man hat.

Gransee

Nach Gransee sind es noch 5 Kilometer durch Feld und Forst. Kurz vor dem Ziel entdecken wir am Weg einen alten Gutshof, der mit seinen beiden verwitterten Mauern, zwischen denen das Eingangstor fehlt, wirkt als wäre die Vergangenheit hier noch nicht abgeschlossen. Und tatsächlich hat der Hof eine dunkle Geschichte, wie wir auf dem Schild am Eingang lesen. Zu Beginn des letzten Jahrhunderts gründeten die Töchter der großbürgerlichen, jüdischen Familie Veit Simon hier ein Obstgut. Katharina führte den Hof, ihre Schwester Eva lebte als Malerin bei ihr im Haus. Es muss eine schöne Zeit für die Schwestern gewesen sein, inmitten der Wälder, Seen und Streuobstwiesen. 1938 ist sie jedoch vorbei. Sie müssen das Gut verkaufen und werden in ein Konzentrationslager deportiert, das sie nicht wieder lebend verlassen. Der Katharinenhof wird viele Jahre später wieder als Gärtnerei genutzt, dann an die Erbengemeinschaft Veit Simon rückübertragen. Er steht lange leer, bevor er 2008 von zwei Berliner Familien gekauft und restauriert wird. So entkommt er dem Verfall und bewahrt weiter die Erinnerung an die zwei jungen Frauen, die hier aus dem Leben gerissen wurden.

Am späten Nachmittag erreichen wir Gransee. Die Sonne scheint und trotz Minusgraden überkommt uns ein Gefühl jauchzender Sommerfrische. Wahrscheinlich, weil dieser Ort mit so vielen schönen Erinnerungen aus unzähligen Fahrrad- und Wandertouren verbunden ist. Mit einem Eis in der Hand steigen wir auf den Turm des Stadttors, für den man sich im Heimatmuseum den Schlüssel holen kann. Ein letztes Foto, dann machen wir uns auf den Rückweg in unsere Winterresidenz in der Fregestraße.

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